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Sexueller Missbrauch trifft oft Heimkinder

In Institutionen ist das Risiko von sexuellem Missbrauch sechs Mal höher als  ausserhalb. Es braucht klare Verhaltensregeln, um Kinder besser zu schützen. 

Die sexuellen Übergriffe beim FC Thun sind kein Sonderfall. Nicht  nur in Sportklubs, auch in Jugendvereinen, Schulen und Heimen werden Kinder  missbraucht. Mit der ersten nationalen Tagung für einen besseren Kinderschutz  wollte das Schweizerische Bündnis zur Prävention von sexueller Gewalt ein  Zeichen setzen. «Es braucht Impulse für die Präventionsarbeit in den  Institutionen», sagte Andrea Burgener, Präsidentin von Kinderschutz Schweiz.  Diese Bedürfnis ist weit verbreitet: Vertreterinnen und Vertreter von 160  Institutionen erschienen heute zu einer Fachtagung in Olten.

Nicht  ans Tageslicht

Es ist kein Zufall, dass sich vor allem die Heime und  Kindertagesstätten mit diesem brisanten Thema befassen. Laut dem deutschen  Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert sind die pädagogischen Institutionen  besonders anfällig für sexuelle Übergriffe. So haben Heimkinder ein sechsfach  erhöhtes Risiko, während des Heimaufenthaltes misshandelt oder missbraucht zu  werden. Noch schlimmer sieht es ausgerechnet für Pflegekinder aus: Sie leben mit  dem sieben- bis achtfachen Risiko, sexuelle Gewalt erleiden zu müssen. 

Fegert, ein international anerkannter Experte der Universität Ulm, war  vor Jahren mit dem Missbrauch von geistig Behinderten konfrontiert und hat  dieses Tabuthema seither wissenschaftlich aufgearbeitet. Sprachliche Barrieren  und Lernbehinderungen machten Kinder in geschlossenen Institutionen besonders  anfällig für Übergriffe der Erwachsenen. In 41 Prozent der Fälle, so eine  englische Studie, waren Erzieher oder Pflegeeltern die Täter, bei 23 Prozent  waren es die leiblichen Eltern.

Die Zürcher SP-Nationalrätin Jacqueline  Fehr, Co-Präsidentin der Pflegekinderaktion Schweiz, wies an der Tagung darauf  hin, dass die Kinder in 85 Prozent der Fälle den Täter kennen; davon seien 25  Prozent Familienmitglieder. «Der wichtigste Schritt zur Prävention ist deshalb  das Hinschauen», sagte Fehr. Nur so könnten Täter und Täterin erkannt und  strafrechtlich verfolgt werden. Nach wie vor komme nämlich der grösste Teil des  Missbrauchs «nie ans Tageslicht».

Kinder sind nicht abwehrfähig 

Was ist zu tun? Die «kindbezogenen» Präventionsansätze seien  wichtig, stiessen aber bald an ihre Grenzen, betonte Christine Rudolf-Jilg von  Amyna, dem Institut zur Prävention von sexuellem Missbrauch in München.  Jedenfalls gebe es keine nachweisbaren Erfolge, die belegten, dass Kinder  Übergriffe tatsächlich abwehren und den daraus folgenden Verletzungen entgehen  könnten. Die Täter, ob zu Hause, im Heim oder im Ferienlager, seien immer am  stärkeren Hebel. «Kein Kind kann sich alleine schützen, wenn der Täter oder die  Täterin erwachsen oder sonst deutlich überlegen ist», sagte Christine  Rudolf-Jilg.

Das «Empowerment der Kinder», bislang der Königsweg der  Prävention, müsse relativiert werden. Entscheidend sei vielmehr, dass  Institutionen die Kinder und Jugendlichen vor sexueller Gewalt schützen könnten,  wie das im Konzept «PräTect» des bayerischen Jugendrings für sechs Millionen  Kinder umgesetzt wird:

Bei der Anstellung von Mitarbeitern, auch der  ehrenamtlichen wie Lagerbegleitern, wird genau hingeschaut, polizeiliche  Führungszeugnisse (Leumundszeugnis) sind vorgeschrieben. Ebenso Schulungen. 

Ein Verhaltenskodex wird schriftlich fixiert, auch als Schutz der  Mitarbeitenden. Also kein gemeinsames Duschen mit Kindern, getrennte Zimmer,  keine verschlossenen Türen bei Einzelgesprächen. Oder in der Krippe nur Wickeln  zu zweit, Fiebermessen nur mit dem Ohrthermometer.

Es gibt ein  Beschwerdemanagement für Kinder und Eltern, damit Grenzverletzungen gemeldet und  nicht verschwiegen werden. Für den Verdachtsfall ist das Meldeverfahren  geregelt, auch bezüglich Jugendamt und Polizei. Nötig sind also klare Standards,  aber auch aufmerksame Teams und konsequente Heimleitungen.

Tages Anzeiger 06. Juni 2008 Beat Bühlmann