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Interview: "Sie lieben Mama und Papa, nicht Ersatzmamas und Ersatzpapas"

Die Reaktionen auf Ihr Buch waren teilweise heftig. Hat Sie das  überrascht?

 Wenn man eine Streitschrift schreibt, ist es Sinn und Zweck,  dass man einen Streit auslöst. Die Heftigkeit hat mich dennoch etwas überrascht  und vor allem, dass über das tragende Kapitel im Buch, die Kinderperspektive,  kaum gesprochen wurde. Es ging immer nur darum, ein Familienmodell zu  verteidigen, das ich ja gar nicht angreife.

Sie postulieren ganz am Anfang:  «Jedem Patchworkglück geht ein Familienunglück voraus.» Das ist, zumindest  indirekt, schon ein Angriff.

 Der Patchwork-Konstellation geht in der  Regel ein Scheitern voraus, nämlich das Scheitern einer Ursprungsfamilie. Und  dieses Scheitern hat Opfer zur Folge und diese Opfer sind die Kinder. Das weiss  zwar im Grunde jeder, aber es wird verdrängt, weil man sich mit dem Scheitern  nicht gerne beschäftigt und weil Scheidungen heute Mainstream sind. Dabei zeigen  Untersuchungen: Scheidungskinder haben häufiger Schulprobleme, neigen mehr zu  Depressionen und Sucht, Jugendkriminalität und Suizidalität sind bei ihnen  erhöht, und sie lassen sich als Erwachsene doppelt so häufig scheiden wie  Nicht-Scheidungskinder.

 Für Kinder, schreiben Sie, sind Scheidungen  immer eine Tragödie. Kann es überhaupt eine kindergerechte Scheidung  geben?

Nein. Wobei es jetzt nicht um die Extremfälle geht, also jene  Fälle, wo Gewalt in der Familie herrscht. Aber Kinder sind konservative Wesen,  sie lieben das Beständige und sie lieben Mama und Papa und nicht Ersatzmamas  oder Ersatzpapas und zwei Zuhause schon gar nicht. Bei einer Trennung zerbricht  das Nest, der Ort der Zuflucht, wo sie Geborgenheit erfuhren, die Kontinuität  reisst ab, es ist das Ende der Familiengeschichte. Die Eltern schauen nach  vorne, haben vielleicht eine neue Liebe, aber die Kinder trauern dem Verlorenen  hinterher.

Angesichts der hohen Scheidungsrate und der entsprechend  vielen neuen Familienbildungen sind das düstere Aussichten.

Ich behaupte  nicht, dass Patchwork nicht funktionieren kann. Aber es wird – vor allem in den  Medien – ein Bild vermittelt, das diese Konstellation sehr idealisiert und nur  die schönen Seiten zeigt. Und zwar in einer Penetranz, die enorm eindimensional  ist und nicht das Geringste mit der Realität zu tun hat. Erst recht, wenn man  weiss, dass 50 Prozent aller Patchwork-Konstellationen wieder  scheitern.

Sie kritisieren, dass Scheidungskinder ihres Urvertrauens  beraubt werden und mit der Gewissheit aufwachsen, dass nichts Bestand hat. Mit  Verlaub: Man muss kein Scheidungskind sein, um nicht an ein Familienidyll zu  glauben.

Dieses Familienidyll gibt es so ohnehin nicht. Jede  Familienkonstellation ist auf ihre Weise verlogen, das war bereits früher so.  Und natürlich erkennen das nicht nur Scheidungskinder. Aber dass sie sich  doppelt so häufig scheiden lassen wie Nicht-Scheidungskinder, ist eine  aussagekräftige Zahl.

Sind die Leute heute nicht einfach ehrlicher und  ziehen irgendwann einen Schlussstrich?

Ich will keinesfalls zurück zu den  alten Zeiten, die waren nicht besser. Eltern sollten auch nicht wegen ihrer  Kinder zusammenbleiben, wenn ihre Liebe endgültig erloschen ist. Ich habe keine  Lösung, aber ich finde, wir sollten uns fragen: In welcher Gesellschaft wollen  wir eigentlich leben? Wohin entwickelt sich eine Gesellschaft, wenn Beziehungen  immer weniger wert sind? Wenn nichts mehr Bestand hat? Wenn niemand mehr an  Verbindlichkeit glaubt? Was bedeutet das für uns alle? Es geht nicht um richtig  oder falsch, es geht um den Preis. Darüber müsste doch ein gesellschaftlicher  Diskurs stattfinden.

Vielleicht müsste man sich einfach eingestehen,  dass das System Familie so, wie wir es bis jetzt gelebt haben, komplett  gescheitert ist?

Man müsste sich erstmal eingestehen, wie es wirklich  ist. Man müsste zum Beispiel zuerst einmal seinen Kinderwunsch sehr genau  überdenken. Es gibt Männer, die haben noch nie mit einer Partnerin  zusammengewohnt und keine Ahnung, ob ihnen das überhaupt entspricht, und sagen,  sie wollten unbedingt eine Familie. Andererseits gibt es auch Frauen, die  unbedingt ein Kind wollen, obwohl sie ahnen, dass der aktuelle Partner dafür der  Falsche ist. Aber der Kinderwunsch wiegt schwerer.

Patchwork heisst  Flickwerk und für Sie beschreibt das auch einen gesellschaftlichen Zustand, weil  alles um-, aus- oder eintauschbar ist. Sie schreiben: «Wenn alles ersetzbar ist,  ist alles wertlos.»

Ja, weil dann das Gefühl für Einmaligkeit verloren  geht. Die Dinge verlieren an Wert. Unser Leben unterliegt, zugespitzt  formuliert, der Dauerevaluierung, alles ist auf Zeit angelegt: Hab ich noch den  richtigen Handyanbieter, die richtige Zeitung, den richtigen Arbeitgeber? Alles  kann stets auf Anfang zurückgedreht werden. Dieses Denken greift auf das ganze  Leben über. So fragt man sich dann eben auch irgendwann, ob man noch den  richtigen Partner hat. Das ist die Kehrseite der Mobilisierung,  Flexibilisierung, Ökonomisierung, denn das ist Gift für alle Systeme, die träge  sind, und die Familie ist ein träges System.

Das hat viel mit Egoismus  zu tun.

Absolut, es geht zu oft um Selbstoptimierung. Da ist der Anspruch  auf das absolute Glück, das einem zusteht. Dieses Denken lässt einen immer  vermuten, die aktuelle Situation sei nicht ganz perfekt, sie liesse sich noch  verbessern. Also fragt man sich: Bin ich glücklich? Wie könnte ich noch  glücklicher werden? Die eigene Befindlichkeit wird beinahe wie unter einem  Mikroskop begutachtet. Mit dem Resultat, dass man nie zufrieden ist und dauernd  neue Bedürfnisse entstehen, die befriedigt werden wollen.

Sie werfen  Paaren vor, dass sie zu wenig Biss hätten, zu schnell aufgäben. Aber wann ist  die Grenze des Zumutbaren erreicht? Bei einem einmaligen Betrug? Oder erst nach  mehrmaligem Fremdgehen?

Da kann man keine Regeln aufstellen. Das Problem  ist ja nicht, dass wir es uns zu leicht machen, sondern dass wir die falschen  Erwartungen haben, die falschen Vorstellungen von Liebe, von Familie. Man ist  eben leider nicht die ganze Zeit verliebt, es ist nicht immer aufregend, und der  Alltag ist oft unromantisch. Hinzu kommt die Anspruchshaltung an den Partner,  die Vorstellung vieler, der andere müsse einen glücklich machen. Was das Bild  von Beziehungen betrifft, fehlt es uns womöglich an Realitätssinn. Sobald Kinder  im Spiel sind, wird der aber immer wichtiger.

Sie schreiben: «Kinder  sind Optionsvernichter.»

Natürlich. Wir leben in einer  Multi-Options-Gesellschaft und akzeptieren immer weniger, dass wir  Entscheidungen treffen müssen, die mitunter auch Verzicht bedeuten. Stattdessen  verbreitet sich immer mehr die Vorstellung, dass man doch alles zusammen haben  kann. Also eine kleine Affäre hier, eine Freundin dort, Hauptsache, man kommt  stets auf seine Kosten. Erwachsen sein bedeutet aber vielmehr, Verantwortung zu  übernehmen. Mit einer Familie stehen einem nicht mehr alle Optionen  offen.

Ihr Buch ist trotz seiner Angriffslust in einem sehr nüchternen  Ton abgefasst. Dennoch stellt sich natürlich die Frage: Sind Sie ein  Scheidungskind?

Ja. Ich weiss, wovon ich rede. Und wenn Sie von  Angriffslust sprechen: Es handelt sich im Grunde um ein romantisches Buch. Ich  plädiere dafür, dass es um mehr gehen soll als darum, dass alles nur auf Zeit  ist. Die Idee der Dauerhaftigkeit ist doch ein romantischer Ansatz. Die Idee der  Familie als eine verschworene Gemeinschaft und das Gefühl der  Zusammengehörigkeit sind es auch – und wenigstens eine Idee davon muss es doch  noch geben!

Melanie Mühl: Die Patchwork-Lüge – Eine Streitschrift.  Hanser, München 2011. 171 S., ca. 27 Franken.

(Tages-Anzeiger)

Paar, Komentare Leser und Leserinnen:

 

Caroline Egger  Da es jetzt viele PW-Familien gibt, kann Möhl  natürlich auf ein betroffenes Publikum hoffen, dass sich zu Rechtfertigungen  bemüssigt fühlt, obwohl Möhls Beliebigkeitsgewäsch eigentlich nur eines verdient  hätte: Ignorieren und weitermachen wie es am besten geht, die trad. Familie ist  auf dem absteigenden Ast und diese Entwicklung wird Möhls dürftige Streitschrift  mit Sicherheit nicht umkehren 

Max Marillo  "wenn man weiss, dass 50 Prozent aller  Patchwork-Konstellationen wieder scheitern". Dann ist das Modell ja immer noch  deutlich erfolgreicher als die Ehe, die ja bekanntermassen zu über 60%  scheitert.Antworten

Linus Luchs Für die Kinder ist es dramatisch, wenn sich die Eltern  trennen, keine Frage. Für Tausende Kinder folgt dann das nächste Drama. Papa  wird zur Randfigur degradiert. Die üblichen amtlichen Verfügungen betr. Sorge-  und Besuchsrecht verunmöglichen eine alltagsbezogene Beziehung zwischen Vätern  und Kindern. Mütter, die den Kindsvater ausgrenzen, quälen die Kinder, geniessen  aber den Schutz der Behörden.Antworten

Ursula Eichenberger Wie oft habe ich gehört "mein Partner/Partnerin  hat mich einfach nicht mehr glücklich gemacht". Wenn dann noch erwartet wird,  dass die Kinder zum ewigen Glück beitragen oder die Beziehung festigen, geht gar  nichts mehr.. Jede und jeder ist doch für das eigene Glücklich-, Zufrieden-,  etc-Sein selbst verantwortlich! Erst dann ist der Mensch "erwachsen". Ich  wünsche unseren Kindern erwachsene Eltern!Antworten

M. Bieri Ich bin "Scheidungskind", mein zukünftiger Mann  "Nicht-Scheidungskind"...welche Voraussetzung entscheidet, ob wir uns später  scheiden lassen oder nicht? Oder heiraten normalerweise nur Scheidungskinder -  Scheidungskinder und Nicht-Scheidungskinder - Nicht-Scheidungskinder? Ich denke  eher, dass Scheidungskinder sich vor der Hochzeit besser überlegen, ob sie mit  diesem Partner alt werden möchten...Antworten

Gianin May Da lebt man nun in einer Beziehung und fragt sich: Bin ich  glücklich? Sollte man sich nicht fragen, ist mein Partner/meine Partnerin  glücklich und was kann ich dafür tun? Beim Lieben ist jeder der Erste. Nur wer  gibt, dem wird gegeben werden.Antworten

Patrick Rohrer  Wer seinen eigenen Ego-Trips nachhechelt beweist seine  persönliche Unreife. In Wahrheit gibt es nichts schöneres als die Gewissheit,  dass etwas Bestand hat, dass man sich uneingeschränkt aufeinander verlassen  kann, egal was kommt. Dieses Gefühl macht frei und glücklich und gibt unseren  Kindern die Geborgenheit die sie brauchen um ohne Verlustängste aufzuwachsen.  Melanie Möhl hat vollkommen recht!

Reto Bommer  Aber es geht mit nicht darum um dies zu verurteilen,  jedem das seine. Ich erwähne dies zum Vergleich mit dem Kommentar vom Patrick  Rohrer.